Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir gedenken heute der unzähligen Männer, Frauen und Kinder, die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, von Völkermord und Rassenwahn, von Terror und Vertreibung wurden. Wir erinnern an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte, an die beiden Weltkriege und die Nazi-Diktatur, wir erinnern an ein Leid und ein Grauen, für die es im Grunde keine Worte gibt.
Und wir denken an die Menschen, die in unserer Zeit Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen, von Terroranschlägen, Folter und Vertreibung werden. Auch in dieser Stunde, in der wir uns zu einem stillen Gedenken versammeln, müssen in anderen Regionen unserer Welt Menschen unter Krieg und Gewalt leiden.
Der Volkstrauertag ist ein stiller Gedenktag. Er ist ein Tag der Trauer, der Trauer um Menschen, die viel zu früh aus ihrem Leben gerissen wurden, um Menschen, die Unfassbares erleben mussten. Er ist ein Tag, an dem wir den Opfern unseren Respekt erweisen und bekunden, dass wir all dieses Leid, all diese Zerstörung nicht vergessen wollen.
Und der Volkstrauertag ist ein Tag, an dem wir uns mit unseren Gedanken, mit dem Blick zurück auch zu unseren Werten von Heute bekennen: zu Frieden und Freiheit, zur Wahrung der Rechte und der Würde eines jeden Menschen.
Heute vor fast genau 77 Jahren begann die russische Großoffensive bei Stalingrad. 72 Tage dauerte die Schlacht, die als Wendepunkt des vom NS-Regime entfesselten II. Weltkrieges gilt und in der mindestens 700.000 Menschen getötet wurden.
Deutschland hat sich nach 1945 seiner düsteren Geschichte gestellt. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel aufgearbeitet. Doch wir erleben auch, dass, wie Bertholt Brecht es einmal formuliert hat, dass das „Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden erstaunlich kurz“ ist.
Wir erleben heute immer wieder, dass die dunklen Seiten unserer Geschichte verdrängt, beschönigt, relativiert werden. Und deshalb sind Gedenktage wie der heutige, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, so wichtig.
Krieg, Gewalt, Terror und Verfolgung bestimmten nicht nur die Vergangenheit. Sie prägen auch unsere Zeit in erschreckendem Maße. In den Nachrichten begegnen uns täglich Berichte über Kriege und Bürgerkriege, über Terroranschläge und Folter, über Flucht und Vertreibung.
Doch Krieg und Gewalt finden nicht nur fern von uns statt. Auch Deutschland ist in der jüngsten Vergangenheit mehrfach Opfer des Terrors geworden.
Auch die Grundlagen unserer Nachkriegsordnung wirken erschüttert. Der europäische Einigungsprozess, der nach den verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in Gang gesetzt wurde, ist nicht so selbstverständlich, wie wir lange dachten.
Die Europäische Union findet immer weniger zur Einigkeit. Nationale Interessen stehen bei vielen Mitgliedern wieder im Vordergrund. Die EU, dieses große Friedensprojekt der Nachkriegszeit, steckt in einer Krise.
Auch bei uns in Deutschland hat sich das politische Klima verändert. Die Gesellschaft hat sich polarisiert, Populisten schüren Ängste oder instrumentalisieren sie, Hetze gegen andere Menschen erscheint auf einmal wieder salonfähig.
Die meisten Menschen, die heute in Deutschland leben, wissen nicht mehr aus eigener Anschauung, wie der Alltag in Kriegszeiten oder in einer Diktatur aussieht, sie können sich kaum vorstellen , wie es ist, einen nahestehenden Menschen durch Krieg oder Gewalt zu verlieren.
Gedenktage wie der Volkstrauertag führen uns allen vor Augen, was Krieg und Gewalt für die einzelnen Menschen bedeuten; sie stellen unmissverständlich klar, dass Krieg und Gewaltherrschaft Tod und Verderben bringen, Menschen wie Familien zerstören und Hoffnungen zunichtemachen.
Gedenktage fragen danach, was die Opfer von Krieg und Gewalt uns zu sagen haben.
Wer sich mit ihren Schicksalen beschäftigt, für den steht außer Frage, welch hohen Wert Frieden und die Wahrung der Menschenrechte haben.
Sich für Frieden und Verständigung einzusetzen ist mühsam und oft langwierig. Aber es ist möglich und es ist aussichtsreich. Mit Gewalt auf einen Konflikt zu reagieren, ist einfach – für Frieden zu wirken, erfordert ungleich größeres Können und weit mehr Fantasie. Aber es bringt die Lösungen, die tragen.
Die Geschichte kennt viele Kriege, aber sie kennt auch Frieden und Versöhnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Versöhnung über den Gräbern stattgefunden.
In Frieden und Freiheit zu leben, in einem Staat, der die Menschenrechte achtet, in einer Gesellschaft, die von Solidarität und Toleranz geprägt ist – das ist nicht selbstverständlich.
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“, hat unser Alt-Bundeskanzler Willy Brandt nur wenige Tage vor seinem Tod vor über 25 Jahren gesagt!
Auch Frieden, Freiheit und die Achtung der Menschenrechte kommen nicht von allein und bleiben auch nicht von selbst bestehen. Sie müssen errungen und immer neu erkämpft oder gesichert werden.